09. Juli 2021 - Roman Rezension (Werbung Rezensionsexemplar)
Von einem Koma spricht man, wenn eine vollständige Bewusstlosigkeit oder eine schwerwiegende Bewusstseinsstörung vorliegt. Letztere ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des normalen Alltagsbewusstseins. In ein Koma fällt die Hauptfigur in „Die liegende Frau“ von Wolfgang Ehemann, ohne Bewusstsein ist sie jedoch nicht.
ICE-Tragödie als Ausgangspunkt
Der Roman von Wolfgang Ehemann beginnt mit der ICE-Katastrophe von Eschede, die sich tatsächlich 1998 ereignete. Beim Zugunglück verloren 101 Menschen ihr Leben. 88 Menschen wurden schwerverletzt.
Auch Barbara Dahlmann gehört zu den Verletzten. Sie fällt sogar ins Koma. Nach einiger Zeit ist sie „austherapiert“. Mit anderen Worten: Es besteht nur wenig Hoffnung, dass sie wieder aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Aber ist sie wirklich bewusstlos?
Gefangen im eigenen Körper
Schwerlich, denn die Hauptfigur beginnt zu denken, zu reflektieren, Stellung zu nehmen und zwar zu allen möglichen Themen. Politischen wie gesellschaftlichen vorzugsweise und überrascht Leserin und Leser mit fundierten Kenntnissen.
Die Hauptfigur, ans Bett gefesselt und im eigenen Körper gefangen, erfährt durch die Medien, was in der Welt passiert, was gerade „in“ ist und macht sich ihre Gedanken dazu. Sie beschäftigt sich auch mit der Vergangenheit in ihrem Leben, den Eltern und ihrer eigenen Beziehung. Überhaupt: Wo ist der Sohn Raoul?
Barbara oder Erik und wer ist Friedrich
Sie erhält Besuche von Erik, ihrem Mann, einer Schwester, einem Arzt und Friedrich, ein Mit-Patient, der sie als Schneewittchen bezeichnet. Doch eines Tages erwacht Barbara. Oder dachte sie nur, dass sie Barbara wäre? Friedrich jedenfalls scheint nicht real zu sein. Im Koma kann die Wirklichkeit schon mal mit der Fantasie verschwimmen.
Wir wissen wenig bis gar nichts, was in einem Menschen vorgeht, der eine so schwerwiegende Bewusstseinsstörung hat. Der Autor gibt seiner Hauptfigur einen voll funktionierenden Geist und ausgeprägten Meinungen zu vielen Themen der Welt, die sie als quasi Außenstehende erlebt. Eigentlich eine gute Position für eine andere Sichtweise.
Wenig Außenhandlung und reichlich innere Monologe
Bei dieser Konstellation ist es einsichtig, dass die Außenhandlung verkümmert. Die Hauptfigur führt uns durch ihre Gedanken-Monologe durch den Roman. Und so liest sich das Buch an einigen Stellen wie ein Essay. Es drängen sich mehrere Fragen auf: Woher bezieht die Figur ihr umfangreiches Wissen? Denken Koma-Patientinnen und -Patienten wirklich so rational?
Der Autor unternimmt einen mutigen Versuch, diese und weitere Fragen literarisch umzusetzen. Eine Schwachstelle entsteht aus dem Charakter des Monologs: Es fehlt der Widerspruch. Weniger, um die Gedanken-Folgen der Hauptfigur zu widerlegen, sondern um Reibung und Spannung zu entfachen. Vielleicht um dies zu kompensieren, enthält der Roman zahlreiche überraschende Wendungen.
In Wolfgang Ehemanns Roman „Die liegende Frau“ scheint vieles anders als die Wirklichkeit zu sein. Das Buch bietet kreative Ideen und eine überraschende Vielseitigkeit. Es enthält unter anderem Elemente des Essays wie auch eines Sachbuches. Nicht zuletzt schlägt es einen zeitlichen Bogen über mehr als zwei Jahrzehnte und wird auf diese Weise zu einem Gesellschaftsroman.
Wolfgang Ehemann: Die liegende Frau
Lektorat: Dr. Karin Orbanz
258 Seiten