Maria Wismar: Badow

Kapitel 1: Der Ritter von Badow

Vor der kalkweißen Wand erhob sich aufrecht ein Ritter und schlang krampfhaft die behandschuhten Hände um ein Langschwert. Sein hölzernes Gesicht ähnelte der Wandfarbe, als hätte die vergangene Zeit einen Schleier aus schalem Grau über die einst farbenfrohe Außenhaut der Skulptur geworfen. Der Ritter presste die Lippen zusammen und stierte ausdruckslos geradeaus: Er schien mit der gesamten Situation unzufrieden zu sein.

Wenn ich den Kopf leicht zur Seite neigte, schien der Ritter mit mit seinem linken Auge zuzuzwinkern. Ich schloss die Augen und ermahnte mich zur Konzentration. Es musste unbedingt aufhören, dass sich Wirklichkeit und Traum in meinem Kopf vermischten. Kinder durften das, Erwachsene nicht. Sagte Chris immer. Vielleicht hatte ich wirklich zu viel gearbeitet in den letzten Monaten.

Marie-Luise verharrte seit fünf Minuten vor der Skulptur, die in einer Konche stehend, glatt über sie hinwegblickte. Marie-Luise betrachtete den Ritter schweigend, leicht vornübergebeugt, als wolle sie allein durch diese stumme Beharrlichkeit eine Reaktion von ihm entlocken. Chris hatte die Kirche schon vor ein paar Minuten verlassen. Muffig sei es hier, klangen mir ihre Worte im Ohr. Und übel wäre ihr geworden. Meine Schöne hatte nicht geschaut, ob ich ihr folge.

Menschen wie ich, die nichts anderes als große Kinder waren, konnten nicht anders, als Marie-Luise zu lieben. Ihren Duft nach warmer Milch und geschälten Äpfeln, der sie umgab wie eine Aura. Ein Geruch, gegen den kein Parfum jemals ankommen würde. Das schlohweiße Haar, verwuschelt wie ein Vogelnest. Es würde mich nicht überraschen, wenn eine junge Blaumeise ihren Schnabel durch das Dickicht der dicken weißen Haare stecken und hungrig piepsen würde.

In Marie-Luise steckte eine junge Frau. Wie ein Schatten entdeckte ich in ihr das Mädchen auf dem Foto im Wohnzimmer in ihrem Haus mit den hellbraunen Locken, die bis auf die Schultern fielen.

„Träumst du, Robert Maltzahn?, sie boxte mir mit der knochigen Faust in die Seite. Schüttelte den Kopf dazu: „Du erinnerst mich an deinen Großvater!“

Ich musste lächeln.

„Ein ziemlich alter Kerl, aber eindrucksvoll“, murmelte ich.

„Findest du?“, sie konnte wie ein Junge lächeln, der den letzten Speck aus der Vorratskammer gestohlen hatte. „Wusstest du, dass Maltzahn ein bekannter Name in der Gegend ist. Einen Katzensprung von hier entfernt befindet sich der Ort Gottesgabe. Ein kleines Dorf mit ein paar Weiden und Häusern. Nicht mehr. Nicht mal eine Kirche. Die Maltzahns besaßen das Gut dort. Sie nannten sich auch von Davermor. Irgendwie philosophisch: Von Teufelsmoor aus Gottesgabe.“

Ich hörte ihr Kichern, obgleich sie es gar nicht tat.

„Tatsächlich? Klingt schräg. Bin ich mit ihnen verwandt?“

„Nonsens, mein Lieber. Deinen Namen trug dein Vater und der kam hier aus Badow. Nach einigen Jahrhunderten war jeder mit jedem verwandt. Sicher läuft hier noch die eine oder andere Großcousine von dir herum, ohne dass du es weißt. Also pass auf, mit wem du anbandelst. Was hältst du von dem Schwert des Ritters?“

Ich kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf zur anderen Seite. Als wäre ich kurzsichtig, trat ich näher an die Skulptur. Das stark verwitterte Holz wurde wahrscheinlich nur von einer Schicht Farbe zusammengehalten. Und von der Gewohnheit und dem Schleier der vergangenen Zeit. Die Figur war eine kleine Berühmtheit in der Gegend. Man nannte ihn den Ritter von Badow. Einige der lokalen Historiker nahmen an, dass er der Gründer und Erbauer der Kirche war. Ein Helmond von Plesse aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, so lautet vermutlich sein Name.

Marie-Luise wandte sich jetzt ganz der Skulptur zu: „Es gibt eine schöne Legende über den Ritter von Badow. Für sieben lange Jahre wurde er in eisernen Fesseln in einem Kerker gehalten. Als er schließlich in Freiheit kam, schwor er für jedes Jahr, das er in Gefangenschaft verbracht hatte, eine Kirche zu gründen. Die erste soll diese hier in Badow gewesen sein.“

Ich entsann mich der Berichte über ihn. Bei der Skulptur handelte es sich ursprünglich um eine Liegefigur, die über einem Hochgrab gewacht haben sollte. Das musste ihm besser gefallen haben. Auf dem Rücken liegend konnte er die vorbeiziehenden Wolken betrachten; sich von der Sonne wärmen lassen und vom Regen erfrischen. Der Wind wehte ihm keck um die Nase, wenn die Sonne zu heiß wurde, und wischte ihm die Regentropfen aus den Augen, wenn der Himmel tagelang grau blieb. Krähen beobachten und wissend, dass er die verwesenden Überreste seines Originals beschützte. Kein verzweifeltes Schicksal.

„Hat er es geschafft?“

„Was denn?“

„Sieben Kirchen zu bauen?“

„Keine Ahnung.“

Irgendwann brachte man die Skulptur in das Innere der Kirche und stellte sie aufrecht auf einen Sockel in die Konche. Vielleicht glaubte man, ihm nach der ganzen Zeit unter freiem Himmel etwas Gutes tun zu müssen. Eine Art Entschädigung für Jahre voller Regen, Schnee und Wind. Nun stand er hier und starrte geradewegs auf die Tür, als wünsche er nichts sehnlicher, aus ihr heraus zu spazieren und sich wieder draußen hinzulegen. Der Ritter, der sein Schwert mit beiden Händen vor dem Bauch hielt. Seine Sorge um das Hochgrab war berechtigt. An der Stelle, an der es sich ursprünglich befand, breitete heute ein junger Eschenbaum seine noch kahlen Äste aus.

Doch es war kein Schwert, das er in seinen Händen hielt. Ich hatte es beim ersten flüchtigen Blick gar nicht bemerkt oder besser, automatisch angenommen, es wäre eines. Was sollte ein Ritter auch anderes als ein Schwert in den Händen halten?

„Interessant“, raunte Marie-Luise und kam mir mit dem Nest auf ihrem Kopf recht nahe. Sie kicherte, als wäre sie glücklich über das, was sie gleich sagen wollte, „deine Freundin verpasst alles.“

„Ich würde mich wirklich freuen, wenn du dich überwinden könntest, Chris wenigstens ein wenig zu mögen.“

„Grund, gütiger, nenne mir nur einen Grund. Also, für was hältst du es, was er in den Händen hält? Ich denke, es ist ein …“

„… ein Pfahl!“, rief ich. „Vielleicht wollte er gerade eine Hexe oder einen Vampir pfählen. Das war ein beliebter Zeitvertreib damals, nehme ich an.“

Der Gegenstand in den Ritterhänden war so lang wie ein Schwert aber die Form war mehr rund statt flach.

Marie-Luise kicherte.

„Ich mache mir Sorgen. Was soll nur aus dir werden, wenn du älter wirst. Wenn du schon jetzt nicht erkennen kannst, was der gute Mann in seinen Händen hält …“, kopfschüttelnd verschwand sie durch die Holztür. „Macht dich das nicht stutzig, Robert? Vielleicht solltest du mehr Fragen in deinem Leben stellen.“

Ich warf einen letzten Blick auf den Ritter und den Gegenstand in seinen Händen. Ich hatte keine Ahnung, was es es sein könnte. Weder, worauf Marie-Luise anspielte, noch was dieser vermaledeite Ritter mit sich herumschleppte. Wäre er doch nur mit seinem Hochgrab untergegangen.

 

~~~~~

 

Ich atmete die frische Luft tief ein, als ich die schwere, kiefernnadelgrüne Holztür der Kirche hinter mir schloss. Marie-Luise und Chris standen in einem Abstand zueinander, der beiden ausreichend Sicherheit gab. Auf die beiden Frauen fiel der Schatten eines knorrigen Apfelbaums, der auf dem Kirchhof wuchs und mich an Marie-Luise erinnerte. In der Herbstluft lag der Duft von süßen, saftigen Früchten. Sein Stamm war von der Zeit krumm gebogen. Ende Oktober war es noch warm genug für ein T-Shirt.

Die beiden Frauen befanden sich im umfriedeten Kirchhof, auf dem Grabsteine von seiner jetzigen Verwendung erzählten. Krumm und schief, bildeten sie drei noch krummere Reihen, als hätten die Toten ihnen den Boden entzogen. Vielleicht versuchten die Geister der Toten auch nur, sich zu befreien. Chris und Marie-Luise interessierten sich weder für Geister noch für Grabsteine.

Chris hatte die Mundwinkel verzogen, als ich ihr heute Morgen erzählt hatte, dass wir Marie-Luise zum Besuch der Kirche in Badow abholen würden. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als ich mich beeilte zu erklären, dass, wenn wir doch schon einmal in der Nähe wären … aber es hörte sich genauso an, was es tatsächlich war: eine miserable Ausrede.

Also hatte Chris nichts weiter dazu gesagt. Wie es ihre Art war, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war. Nur die Mundwinkel zog sie noch ein Stück mehr zur Seite. Dann sah sie aus, als hätte sie einen Schlaganfall erlitten. Vermutlich fühlte sie ähnliche Beschwerden.

Chris beugte sich jetzt leicht vor, einen Zentimeter in den Kreis ragend, den Marie-Luise imaginär um sich wie einen Schutzzaun gezogen hatte. Chris` klassisch griechisch geschnittene Nase schnitt sich wie ein ausgestreckter Zeigefinger auf ihr Gegenüber. Ihre Nasenspitze, scharf wie ein Nagel, war das Erste, auf das man bei ihr traf. Der erste Eindruck ritzte gleich einen Kratzer auf deinen Lack. Du konntest dich ihr nicht entziehen. Chris liebte es, sich mit anderen zu reiben. Ich war mir sicher, das lag an ihrem Beruf. Christiane Stahlbaum, Anwältin für Arbeitsrecht bei Testholm, die ihre Kanzlei direkt neben dem Rathaus in der Innenstadt von Hamburg hatten. Grund gütiger, ich liebte sie wahrhaftig aber ich wollte nie ihr Gegner im Gerichtssaal sein.

Wenn es so etwas gab, hatte es Chris: die perfekte Figur für einen Streit. Mit 1,80 Meter überragte sie die meisten Frauen. Sie war schlank und biegsam wie ein Eschenzweig, perfekt gerade gewachsen wie es ihn nur alle hundert Jahre gibt. Wenn sie einen Raum betrat, nahm sie ihn ein wie eine Eroberin. Wie selbstverständlich richteten sich alle Blicke auf sie. Chris genoss das nicht nur, sie forderte es ein.

Chris stritt sich aber nicht per se. Für einen richtigen, wertvollen Streit setzte sie voraus, dass beide Seiten sich auf dem gleichen Niveau befanden. Sobald sie merkte, dass der Andere nicht an ihr Wissen und an ihre rhetorischen Fähigkeiten heranreichte, verzog sie allenfalls die Mundwinkel und schwieg im Übrigen. So wie jetzt mit Marie-Luise. Chris blockte alles ab. Marie-Luises Worte prallten an ihr ab, als wären sie nie gefallen. Als wäre jede Art von Reaktion unter ihrer Würde. Wahrscheinlich dachte sie es auch so.

Ein schwacher Windhauch wehte das Wort „Kinder“ herüber, dass aus Marie-Luises Mund wie ein Vorwurf gekrochen kam. Ich atmete tief aus und beeilte mich, einzugreifen.

Als ich die beiden erreichte, bedachte Chris mich mit einem vorwurfsvollen Blick, die Nachmittagssonne färbte ihre Augen azurblau und der Windzug spielte mit ihren braunen kurzen Haaren. Nie fühlte ich mich optisch mehr zu dieser Frau hingezogen als in diesem Augenblick vor der Kirche von Badow. Im Hintergrund, am Ende der Straße, schimmerte weiß das Gutshaus des Dorfes. Als musste es sich gerade jetzt bemerkbar machen. In einigen Beschreibungen bezeichnete man es sogar als Schloss. Ich blinzelte mit den Augen. Ich hätte es gerne von Nahem gesehen.

„Robert!“, sagte Chris in einem Ton, in dem der Nebensatz mitschwang, dass sie es doch gewusst hatte. Dann schritt sie zum Auto.

„Oma!“, raunte ich, als Chris außer Hörweite war.

Marie-Luise nickte leicht mit dem Kopf in Richtung des Gutshauses.

„Sechzig Jahre ist es her, dass ich deinen Großvater in jenem Haus kennenlernte.“

Ich sah hinüber zum weißen Fleck am Ende der Straße. Aus der Ferne wirkte es unschuldig.

„Ihr habt euch dort zum ersten Mal getroffen?“

„Wenn du mich öfter besuchen würdest, hätte ich dir die Geschichte schon längst erzählt. Sein Vater Friedrich hatte auf dem Gut gearbeitet. Er war dort Knecht.“

Ich kannte den Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang. Er war in den letzten Jahren, genauer seit Walter gestorben war, Bestandteil jedes unserer Gespräche. Wie eine Tradition, die ihren Sinn vielleicht verloren hatte, aber noch immer wiederholt werden musste.

„Fahren wir, Oma“, ich legte den Arm um ihre schmalen Schultern.

„Machen wir einen Deal. Du erzählst mir die Geschichte, wie ihr euch kennengelernt habt erst, wenn wir dich wieder besuchen. Und du kannst sicher sein, ich will sie wissen.“

„Wer weiß, ob es überhaupt ein nächstes Mal gibt, mein Lieber.“

 

„Marie-Luise!“

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