Maria Wismar: Badow

Kapitel 3: Dieb

 

Nachdem ich gestorben war, hatte jemand die Eingeweide aus meinem Körper herausgezogen und ihn stattdessen mit schreiender Angst gefüllt. Ich hatte keine Ahnung, welcher Kerl einen Beutel Angst mit sich führte, aber so musste es gewesen sein. Es war keine simple, einfache Angst. Vor der Angst in meinem Körper konnte man weglaufen; wenn man es konnte. Es war eine hinterhältige, eine ausfüllende Angst, bis ich begriff, dass ich offensichtlich nicht gestorben sein konnte, wenn ich noch so etwas wie Angst spüren konnte. Statt mich weiter über diese absurde Situation zu wundern, fühlte ich, wie die Angst durch einen großen Frieden vertrieben wurde. Eine gänzlich unnatürliche Ruhe breitete sich dort aus, wo gerade noch Unruhe und Sorgen tobten. Ich sah plötzlich alles scharf, ganz deutlich und doch fern und unbeteiligt. Mir wurde bewusst, was ich zu tun hatte, um mich und mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und ich erkannte, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, an dem ich sterben konnte.

Nach einigen Sekunden ließ das Summen nach, die Panik ebbte ab und ich atmete tief durch. Ich rappelte mich auf und blickte zum Himmel. Die Sterne funkelten in der klaren Luft; es war frisch geworden. Die Muskeln in meinen Armen und Beinen zuckten schwach wie bei einer ausklingenden Epilepsie. Als wären sie unter Strom gesetzt worden.

Aber mein Wille funktionierte.

Und der befahl mir, sofort zu Chris zu gehen. Ich blickte um mich, aber sie war verschwunden. Vielleicht war sie zum Auto zurück gegangen.

Wir, und damit meinte ich wir drei, meine, unsere kleine Familie, das war noch nicht zu Ende. Ich würde mit Chris reden und sie überzeugen müssen, dass wir das Kind bekommen. Egal, was sie dagegen einwenden würde. Ich konnte auch wie ein Stier kämpfen, wenn es darauf ankam … also vermutlich, und jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

Der Weg war dunkler und wilder als zuvor. Nebel zog auf. Der Wind hatte sich gelegt. Der schmale Fußpfad, auf dem ich von der Straße zum Findling gelangt war, war verschwunden. Statt der Haselnusssträucher baute sich vor mir ein Buchendickicht auf, das mir den Blick zur Straße verwehrte. Doch auch hinter dem Dickicht befand sich keine Straße.

Alles schien vertraut und war doch ganz anders als ich es in Erinnerung hatte. Die Bäume und Sträucher waren belaubt wie zuvor, aber ihr Grün war neu und frisch, wie es nur im April gab. Jenes, welches ich nun vor Augen hatte, war verbraucht, stumpf und dunkel. Mich trösteten einzig die Lichter von Badow, die mir aus der gleichen Richtung und Entfernung entgegen schimmerten. Der Nebel verdichtete sich. Fett und bedrohlich hing er über dem Boden. Der Wind hatte sich schlafen gelegt.

Ich fühlte, wie sich Unsicherheit in meinem Bauch sammelte, bereit stand, in den Hals aufzusteigen. Das durfte ich nicht zulassen, wenn ich bei Verstand bleiben wollte.

Wo war Chris? Die Stimmen, die von Badow herüber hallten, wurden lauter. Deutlich war darunter Hufgetrappel zu hören. Ich schwankte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Es schien mir die einzige Chance, um ins Gleichgewicht zu gelangen. Ich musste mich verlaufen haben. Und warum war dieser Komet so viel größer und näher?

Die Sonne war seit einiger Zeit unter den Horizont abgetaucht. Die Dunkelheit senkte sich rasend. Die Stämme der Eschen und Birken schimmerten wie graue Säulen im Nebel, der sich schleichend um die Natur legte.

Ich nahm die direkte Richtung zu den Lichtern. Ich war so durcheinander, dass ich nicht mehr wusste, wo sich der Weg zum Auto befand. Ein Wolkenband verdunkelte den Himmel. Es war jetzt so schwarz um mich, dass ich nur noch die Lichter des Dorfes in der Ferne sah, die wie Glühwürmchen zu tanzen schienen.

Plötzlich, als ich schon fast alle Hoffnung aufgegeben hatte, öffnete sich vor mir eine Ebene, die bis zum Horizont reichte. Genau dort, an der Grenze zwischen Himmel und Erde, leuchteten die schummrigen Lichter von Badow. Das Wolkenband zog weiter und der Mond tauchte die Ebene vor mir in ein silbriges Zauberlicht. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich auf einem der Maulwurfshügel eine tanzende Gruppe von Elfen entdeckt hätte.

Etwa in der Mitte der Niederung erhob sich ein Hügel, den eine Gruppe von Weiden umrundete. In den Zweigen der Bäume verfing sich das Mondlicht und manchmal, wenn der laue Wind das Blatt in den rechten Winkel drehte, blitzte es wie ein Silberstück herüber. Ein Schatz zum Ansehen.

Das Gras war feucht, die klare Nacht ließ mich schauern. Als ich näherkam, entdeckte ich, dass die Weidenlinie nicht willkürlich gezogen war. Die Bäume begleiteten einen Bach, der nicht breiter als zwei Meter und so flach war, dass ich die im Mondlicht schimmernden Steine in seinem Bett zählen konnte. Ich erinnerte mich dunkel, dass die Gegend hier von der Schilde durchzogen wurde. Kniehohes Gras fasste die Ufer ein. Einige der Steine ragten aus dem Wasser, sodass sie wie ein Pfad über die Wasseroberfläche von einem zum anderen Ufer führten. An einigen Stellen kräuselte sich das Wasser und warf kleine Bläschen. Der Bach murmelte leise und mehrfach glaubte ich, meinen Namen gehört zu haben. Natürlich, es fehlte nur noch, dass die Bäume und der Fluss mit mir zu reden begannen. Verrückt werden ist so einfach.

Das Mondlicht warf sein kaltes, unscharfes Licht durch die Äste der Weiden, wo es sich verfing und verlieh dem Zauber dieses Ortes seine mystische, geheimnisvolle Aura. Ich wollte, ich hätte es Chris zeigen können. Vorsichtig, die Festigkeit jedes einzelnen Steins prüfend, querte ich den Bach und arbeitete mich durch das hohe Gras auf der anderen Seite. Ich erklomm den schmalen Gipfel des kleinen Hügels und sah wie ein Feldherr um mich. Die Ebene setzte sich hinter dem Hügel fort und erlaubte mir einen offenen Blick auf das Dorf Badow.

 

~~~~~

 

Im Osten schien sich das Gutshaus zu befinden. Seine Mauern warfen das Mondlicht weiß zurück. Vom Gutshaus schwang sich ein Hügel hinauf zur Kirche, die respekteinflößend über allen anderen Gebäuden stand. Rechts vom Gotteshaus zogen ein halbes Dutzend niedriger Bauten zum westlichen Horizontende.

In der Nähe der Kirche flackerte Licht. Der Nebel, den ich hinter mir gelassen zu haben glaubte, stieg schnell empor und umschloss den Hügel. Er war so dicht und feucht, dass von meinen Haaren Feuchtigkeit tropfte. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich die Orientierung verloren. Verzweifelt hielt ich nach den gelben Punkten der Lichter Ausschau, die mich bisher geführt hatten. Selbst der Mond, der mir die ungefähre Richtung hätte weisen können, war verschwunden. In der Ferne glaubte ich abermals Hufgetrappel zu hören, konnte die genaue Richtung aber nicht ausmachen. Mit einem Male tauchte ein Schatten vor mir auf, so groß wie ein Auto. Er erinnerte mich an ein Denkmal, bei dem ein Mann auf einem Pferd saß und sein Schwert in den Himmel stieß, um die Wolken zu kitzeln. Irgendein römischer Feldherr. Ob Römer oder nicht, es war ein Mensch.

„Hallo!“, rief ich erleichtert in die neblige Suppe.

Der Schatten bewegte sich auf mich zu. Glaubte ich. Es war kein Reiter, es war eine Frau. Eine mittelgroße Frau, mit einer weißen Bluse bekleidet, deren Ärmel hochgekrempelt waren. Die schulterlangen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. Sie leuchteten hell. Die Frau sah zu mir herüber, wendete das Pferd und entfernte sich.

„Hallo!“

Keine Antwort. Ihre Silhouette war fast nur noch ein Schatten. Konnte sie nicht warten? Wie viele Männer laufen schon nachts orientierungslos durch den Nebel? Wo blieb da das Interesse am Außergewöhnlichem?

„Hey! Warten Sie!“

Ihr Schatten wurde grauer, nebulöser. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in Bewegung zu setzen und ihr nachzulaufen. Damit war sie schon die zweite Frau, der ich heute Abend nachlief. Das musste unbedingt aufhören.

Es ging den Hügel hinunter, über eine Ebene. Die Ebene war eine Weide, mit Maulwurfshügeln bombardiert. Ich stolperte über sie. Nachts waren Maulwurfshügel auch schwarz. Ich lief trotzdem aus Angst, den einzigen Menschen zu verlieren, den es hier gab. Bis ich gegen einen Zaun stieß.

Ich überwand den Weidezaun aus groben Holzlatten. Zur linken Hand tauchte die schwarze Silhouette eines großen Gebäudes auf, das ich schnell als die Kirche identifizieren konnte. Rechts von ihr entblätterte sich ein niedriges Haus im Retro-Stil aus dem Nebel, mit Schilf bedeckt und Wänden aus grobem Putz. Ich erinnerte mich nicht daran, es heute Nachmittag gesehen zu haben. Das Haus wurde von einem Zaun geschützt, der aus schmalen Ästen gebaut worden war. Allerdings war dies so konfus und bar aller Regeln geschehen, dass es sich genauso gut um eine Laune der Natur handeln konnte. Das Hindernis reichte mir gerade über die Knie und ich überwand es mühelos.

Kaum war ich hinüber, spürte ich an den Füßen Feuchtigkeit aufsteigen und die nächsten Schritte wurden von einem dreckigem Schmatzen begleitet. Ich nahm die Längsseite des Hauses, die dem Mond abgewandt war. An dieser Seite des Hauses befand sich, soweit ich es erkennen konnte, kein Fenster. Es war so dunkel, dass ich gerade bis zu meinen Händen sehen konnte. Aber der Nebel war mir nicht gefolgt. Vielleicht mochte er das Dorf nicht. Dem Schmatzen meiner Schuhe nach, musste sich zu meinen Füßen ein Sumpf oder wenigstens eine Schweinesuhle befinden. Ich fluchte leise vor mich hin. Eine schöne Bescherung, wenn ich an das Schuhe putzen im Hotel dachte.

Wenn ich erst einmal im Hotel wäre!

An einigen Stellen war der Untergrund so einnehmend, dass ich glaubte, am Ende gar ohne Schuhe und Strümpfe dazustehen. Aber das sollte nicht mein Problem werden.

Zuerst hörte ich ein Schnauben. Nicht so eines, als wenn man voller Inbrunst in ein Taschentuch prustet. Es hatte eher etwas Tierisches. Ich kannte das Geräusch. Es brauchte noch ein zweites Schnauben, bis ich mich erinnerte.

Das Geräusch versetzte mich in meine Kindheit. Meine Großeltern lebten in einem kleinen Dorf im Herzen Mecklenburgs. Der Nachbar, ein grobschrötiger Kerl mit fellbesetzten Gummistiefeln und gichtgekrümmten Fingern, besaß eine Weide mit zwei Passgängern darauf. Eine Zeitlang stand ich jeden Tag am Gatter und bewunderte die Tiere. Ich wünschte mir, sie zu streicheln, traute mich aber nicht, den Nachbarn zu fragen.

Das Schnauben der Pferde hörte sich genauso an wie jenes Geräusch, das ich jetzt zum dritten Male vernahm. Wie ein Gespenst tauchte es auf dem Weg am anderen Ende des Hauses auf. Ich sah die Silhouette eines stattlichen Tieres, das ungeduldig tänzelte, weil sein Reiter mich bemerkt hatte und die Zügel zurückriss.

Seine Reiterin musste ich verbessern, da sie mir ihr Profil und die schulterlangen, zu einem Zopf gebundenen, Haare zuwandte, um das Pferd enger zu zügeln. Der Mond strahlte sie mit seinem Zauberlicht an wie zuvor die Weiden.

Die Frau vom Turmhügel. Wäre sie nicht aufgetaucht, ich wäre überzeugt, dass sie ein Produkt meiner Einbildung gewesen war. Eine meiner üblichen Verschmelzungen von Realität und Fantasie. Aber sie war echt.

„Wer ist da?“

Ihre Stimme klang keinen Stich nach Angst. Der Ton hatte etwas Gebieterisches an sich, wie jemand, der für sich das Recht in Anspruch nahm, alles wissen und sagen zu dürfen.

„Ich“, antwortete ich, schalt mich aber sofort einen Narren. „Bitte warten Sie. Ich habe mich verlaufen. Reiten Sie nicht gleich wieder weg.“

Statt einer Antwort lachte sie. Sie lachte laut und war anscheinend sehr belustigt. Ihr Lachen hatte etwas Ästhetisches an sich. Es war weder hell noch tief, es klang ehrlich. Sie klopfte sich auf die Schenkel. Das machte nicht nur mich nervös – ihr Pferd tat einen kurzen Sprung.

„Still, Brutus, ruhig!“

Sie tätschelte den Hengst am Hals. Das Pferd hielt still, als wäre die Frau eine Zauberin.

„Hören Sie, ich muss telefonieren. Kann ich vielleicht Ihr Handy benutzen? Es ist sehr wichtig!“

In ihrer Hand tauchte eine Art Rute auf. Damit zielte sie genau auf meinen Kopf.

„Kerl, was du willst oder musst, liegt nun nicht mehr in deiner Hand. Außerdem würde ich dir nie mein Händie geben – was auch immer das ist.“

Vielleicht stimmte es ja, was man über die Mecklenburger sagte. Sie seien Fremden abweisend gegenüber und regelrechte Sturköpfe. Aber das Letztere konnte ich auch sein.

„Gut, wie Sie wollen. Ich brauche Sie nicht. Ich werde jemanden finden, der mir hilft. Verbindlichen Dank für Nichts.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, ganz vergessend, dass ich in einer Schlammkuhle steckte.

„Du redest seltsames Zeug. Glaubt der Kerl tatsächlich, ich würde ihm helfen. Am Ende bietet er mir noch die Hälfte der Beute an.“

Sie schlug mit der Rute, dass es knallte. Der Hengst und ich erzitterten gleichzeitig. Die Dame musste des Öfteren vom Pferd gefallen sein. Anders war ihr sonderbares Verhalten nicht zu erklären.

Das Wort Beute machte mich stutzig. Was sollte es bedeuten?

„Frau Wiedow, Herr Pfarrer! Ich habe den Dieb!“

In mir stellte sich ein ungutes Gefühl ein, ohne dass ich es genauer bestimmen konnte. Ich beschloss, zu verschwinden und Hilfe in einem der anderen Häuser zu suchen.

Das verflucht schlüpfrige Geräusch, das jeder meiner Schritte verursachte. Mit einer Hand an der Hauswand abstützend, schlich ich rückwärts, die Frau im Blick behaltend.

„Beeilt euch! Er versucht zu fliehen!“

Ich fühlte Unmut in mir aufsteigen. Die Frau schien mir verrückt, wenigstens geistesgestört. Wer ritt auch schon spät abends auf einem Pferd durch die Gegend. Ohne Licht! Ich nahm keine Rücksicht mehr auf Vorsicht und Lautlosigkeit. Ich wollte hier nur noch weg. Hatte sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen?

Die Hauswand war geschafft. Jetzt nur noch den Pseudo-Zaun und ich hatte die Ebene gewonnen. Von der Seite trat ein Schatten auf mich zu und steckte etwas in meine Jackentasche. Dann traf mich etwas am Kopf und mir wurde schwarz vor Augen.

 

~~~~~

 

Ich erwachte mit Paukenschlägen im Kopf. Irgendjemand musste meinen Schädel ausgeräumt haben und übte nun das Trommelspiel in dem leeren Raum, in dem es wie in einem Dom hallte. Außerdem schmerzte mein Rücken. Das lag augenscheinlich daran, dass man mich wie ein verschnürtes Paket auf etwas Hartem, einer Holzbohle wie sich herausstellte, gelegt hatte. Meine rechte Wange klebte an etwas Kaltem, nicht so hart wie Stein und nicht so weich wie eine Feder. Es war auch nicht glatt wie Glas, deutlich drückten sich grobe Poren in meine Haut.

Es war eine Wand und sie bestand aus Lehm. Aus meiner Lage heraus, konnte ich die großen Poren deutlich sehen. Ungewöhnlich, fand ich, aber seit gestern Abend war irgendwie nichts mehr wie gewohnt.

Man hatte mich gefesselt. Nicht nur wie ein Paket verschnürt, zusätzlich noch die Arme und Knöchel mit einem Seil zusammengebunden. Ich probierte, die Arme auseinander zu reißen – allein mit dem Erfolg, dass die Fesseln sich noch enger um die Handgelenke schnürten. Ich war allein. Niemand, den ich um Hilfe bitten oder fragen konnte. Ich war noch schlimmer dran, als am Abend zuvor.

Ich dachte an Chris. Wo sie jetzt wohl war? Was hatte sie unternommen, um mich zu finden? Warum war sie so plötzlich verschwunden? Wir mussten die Diskussion wegen unserem Baby wieder aufnehmen. So schnell wie möglich.

Doch dazu musste ich von hier weg und Chris finden. Und beides schien derzeit so aussichtslos wie ein Sechser im Lotto.

Die Schmerzen in meinem Kopf dröhnten wie tausend Hämmer. Mir ging es elend und so fühlte ich mich auch.

Ich sah mich in meinem Gefängnis um, denn als ein solches musste ich es wohl betrachten. Die Holzbank, auf der ich lag, lief an der Wand entlang. Die Sitzfläche war nichts anderes als eine grob behauene Bohle, die auf ähnlich rustikalen Ständern gelegt war.

Der Raum war groß. Ich vermutete, dass er fast das gesamte Gebäude ausfüllte. Mittig an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Feuerstelle, welche nicht mehr als ein gewaltiges, mit Asche ausgeschlagenes, Loch war, über das sich eine Eisenstange befand, an der man etwas anhängen konnte. Der Abzug bestand aus einem lehmgemörtelten Schornstein, der die Eintönigkeit der Wand unterbrach.

Alles in diesem Haus wirkte alt und um ehrlich zu sein, gruselig für mich. Eine ausgezeichnete Kulisse für einen Film über das Leben vor einhundert Jahren. Wahrlich, mir lief ein Schauer über den Rücken und dass nicht nur einmal, sondern fortwährend, als wäre es ein schlechtes Gefühl. So sehr ich es wünschte: Ein Traum war es nicht. Die Schmerzen waren echt. Zu echt für meinen Geschmack.

„Hallo?“, rief ich.

Zuerst leise und weil sich nichts darauf regte, noch einmal und doppelt so laut: „Hallo!“

Ich lauschte. Nichts zu hören, außer das Dröhnen in meinen Ohren.

„Ich benötige Hilfe!“

Ein lächerlicher Versuch. Umso lächerlicher, weil ich mir dessen sofort bewusst wurde. Mein bisschen Stolz, ohnehin in den letzten Stunden arg strapaziert, bröckelte wie verwitterte Farbe bei Sturm von der Hauswand. Wenn ich einen Spiegel gehabt hätte – ich …, nein, ich war dankbar, keinen zur Hand zu haben.

Ich war allein und so fühlte ich mich auch. Vielleicht hätte ich angefangen zu weinen, bis ich bemerkte, wie jämmerlich ich mich anstellte. Was war nur los mit mir? Ich war doch immer der Ansicht gewesen, halbwegs intelligent zu sein. Warum also, löste ich mein Problem nicht mit dem Verstand?

Zunächst galt es zu klären, wer mich gefesselt hatte und warum. Mir kam es beinahe so vor, als wäre ich von einem Naturstamm in Amazonien gefangen worden. Ich konnte es nicht an einem festen Punkt festmachen, wie ich auf diesen Gedanken kam. Es war nur ein Gefühl – aber in diesem Augenblick hatte ich nicht mehr als Gefühle. Für mich, als rationell denkender Mensch, war dies eine besorgniserregende Erkenntnis. Vielleicht handelte es sich um eine Sekte. Eine Sekte, die glaubte, die Zeit wäre stehen geblieben und nun so lebten wie die Menschen vor, keine Ahnung, wie vor hundert Jahren?

Die Tür wurde geöffnet. Gott sei Dank! Ich drehte mich vorsichtig um.

Ein Mann betrat den Raum. Die Kutte, die er trug, bedeckte seine schlanke, fast hagere Gestalt beinahe vollständig. Die Haare waren kurz geschoren; zwischen ihnen schimmerte die Kopfhaut. Er hatte ein kantiges Gesicht und fixierte mich kurz mit eisblauen Augen. Natürlich, jetzt war mein Verdacht bestätigt: Ich war in die Fänge einer Sekte geraten. Das erklärte nicht nur das Aussehen des Mannes sondern auch des Hauses.

Ihm folgten zwei Frauen. Die erste war keine dreißig Jahre alt und trug die langen blonden Haare zu einem Zopf gebändigt. Ich vermutete in ihr die Reiterin, die mich mit ihrer Rute bedroht hatte. Sie trug eine dunkelblaue Reiterhose und eine weiße Bluse. Ihre Haltung war aufrecht, fast schon gebieterisch und zugleich wirkte sie elegant, von einer Aura aus Stolz umgeben, die in diesem Raum deplatziert wirkte.

Die andere Frau war einen Kopf kleiner, rundlich von Statur wie eine Litfasssäule. Mit einem runden Gesicht, das von grauen, leicht gelockten und ungepflegten Haaren gerahmt wurde.

Nach ihr betrat noch eine Person den Raum. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich von der Bank gefallen. Der Anblick nahm mir den Atem. Ich traute meinen Augen nicht. War sie es wirklich? Konnte es wahr sein? Ich schloss die Augen und öffnete sie. Sie war noch immer da und sah mich mit einem spöttischen Lächeln an.

Chris!

Und doch, bei näherem Hinsehen bemerkte ich Unregelmäßigkeiten. Die kleinen Falten um die Augen waren verschwunden, überhaupt war die Haut so glatt, als hätte sie sich die ganze Nacht Botox gespritzt. Die Haare trug sie kürzer, eine ganze Handbreit. Dies ließ sie jünger aussehen, als ich sie in Erinnerung hatte.

„Chris?“, rief ich erleichtert.

Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand und wich Überraschung.

„Woher kennt der Kerl dich, Marie?“, sagte die Frau mit dem rundlichen Gesicht in einer Strenge, die nicht zu ihr passte. „Und warum nennt er dich Chris?“

Chris/Marie zuckte mit den Schultern.

„Ich kenne ihn nicht, Mutter.“

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich und sah Chris dabei an.

Was wurde hier gespielt? So erleichtert ich war, dass Chris aufgetaucht war, irritierte mich ihr Verhalten außerordentlich. Sie tat so, als kannte sie mich nicht. Und wie hatte sie all die kleinen Veränderungen in nur einer Nacht hinbekommen?

„Chris? Was soll das alles hier?“

Die einzige Reaktion von ihr war Kopfschütteln. Nun gut. Wie sie wollte. Vielleicht sollte ich einfach mitspielen.

Der Mann packte Chris mit schmalen Fingern an der Schulter. Der weiße Kragen seines schwarzen Hemdes reichte ihm bis unter das Kinn.

„Lass mal, Marie“, sagte er und bedachte mich mit einem herablassenden Blick, als wären diese Worte schon zu viel Ehre für einen wie mich.

„Hier, Frau von Döring. Das haben wir in seiner Jackentasche gefunden. Sie hatten recht. Er ist der Dieb. Es sind zwei Mark und elf Pfennig. Genau die Summe, die der Kauffrau Wiedow gestohlen wurde.“

Die ältere Frau mit dem gutmütigen Gesicht nickte. Ihr blauer Tuchrock hing traurig an ihr herab.

„Genau die Summe. Es waren die Einnahmen von zwei Wochen. Sie wissen ja, wie schwer …“

„Dann ist der Kerl dümmer als er aussieht. Ich fand ihn direkt auf dem Weg in Ihr Haus, Herr Pfarrer.“

Der Geistliche verzog ein wenig die Mundwinkel.

„Das ist sonderbar.“

Er gab den Ledersack der Frau mit dem runden Gesicht.

„Seltsamer noch sind die anderen Dinge, die wir bei ihm gefunden haben.“

Er hielt meine Brieftasche in die Luft, die ebenfalls auf dem Tisch gelegen haben musste.

„Das muss Leder sein. Eine exzellente Verarbeitung. Sehen Sie nur die Nähte, Frau von Döhring. Ich frage mich, wo er so etwas stehlen konnte. Vielleicht im Ausland. Italien, schätze ich. Eine wundervolle Arbeit.“

„Geben Sie sie mir wieder. Sie gehört mir.“

Das wurde ja noch schöner. Jetzt wurde ich auch noch auf eine subtil makabere Weise ausgeraubt.

Die Frau mit dem runden Gesicht und dem traurigen Tuchrock, die als Kauffrau Wiedow bezeichnet worden war, trat vor und nahm meine Brieftasche in die Hand. Sie drehte sie vorsichtig und wie mir schien, bewundernd. Behutsam faltete sie sie auseinander. Damit schien ihr Mut erschöpft. Sie legte das geöffnete Portmonei auf den Tisch.

„So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte sie zurückhaltend aber mit lauter Stimme.

Die Blonde mit dem Pferdeschwanz trat nun an den Tisch und nahm die Brieftasche auf. Sie schien sich weniger für die Verarbeitung der Tasche zu interessieren.

„Ich glaube, er ist ein Grieche.“

Triumphierend wedelte sie mit einer 10-Euro-Note durch die Luft. Der Pfarrer beugte sich vor, als könne er schlecht sehen.

„Wie kommen Sie nur darauf, Frau von Döring? Ich jedenfalls habe solch ein Papier noch nie gesehen.“

Ganz sicher wirkte die Blonde, deren Namen offensichtlich von Döring lautete, auch nicht.

„Es ist eine Banknote, nehme ich an. Ich habe so etwas schon einmal in Schwerin in die Hand bekommen.“

„Und warum Grieche?“

Das junge Mädchen, das auffallende Ähnlichkeit mit der Kauffrau Wiedow besaß, hatte eine angenehme Stimme. Sie war in ein weißes Hemd aus feinem Leinen und einem blauen Tuchrock, ähnlich wie die Frau Wiedow, gekleidet. Nur hüpfte Letzterer fröhlich an der jungen Frau.

„Auf der Note steht Euro. Von Europa, in die sich der griechische Gott Zeus verliebte. Vermute ich.“

Sie kramte weiter und zog etwas aus einer der Taschen.

„Und was haben wir hier?“

Sie zeigte meinen Ausweis und drehte ihn ins Licht.

„Was für ein Material. Zugleich biegsam und fest. Hier ist ein Bild von dem Dieb. Ist das wirklich gezeichnet?“

Sie hielt den Ausweis ganz dicht vor ihr Auge.

„Sehr gut gezeichnet sogar. Deutsch. Hier steht ein Name: Robert Maltzahn, geboren am 28.09.1971. Gültig bis 14.07.2015.“

Sie blickte die anderen mit weit aufgerissenen Augen an. Sogar an mich verschwendete sie einen Blick.

„Was halten Sie davon, Herr Pfarrer.“

Nach einem kurzen Augenblick der Überlegung setzte der Pfarrer jenen überheblichen Blick auf, den ich bereits an Chris zu gehasst hatte.

„Nun, dass scheint mir alles offensichtlich zu sein. Mich wundert, dass Sie selbst nicht darauf kommen, Frau von Döring.“

Die blonde Frau biss sich auf die Lippen, kaum, dass ich es bemerkte.

„Zum Glück haben Sie jedoch, Herr Pfarrer, das Ganze hier durchschaut.“

Der Pfarrer zog die rechte Augenbraue leicht nach oben.

„Hätten Sie die Güte, uns Ihr Wissen mitzuteilen, oder wollen Sie es für sich behalten?“

Der Pfarrer schürzte ein wenig die Lippen, als bedenke er die Frage tatsächlich.

„Der Mann hier“, er zeigte auf mich, „ist ein Hochstapler und ein Dieb. Ein infamer Lump und Verbrecher, der nirgendwo anders hingehört als hinter Schloss und Riegel. Dieser sogenannte „Personalausweis“ ist eine Fälschung.“

Die Frau mit dem runden Gesicht nickte heftig zu den Worten des Geistlichen.

„Das sieht man gleich an den Jahreszahlen“, meinte sie.

„Allerdings“, sagte die blonde Frau, „sehr offensichtlich. Er wird erst in 67 Jahren geboren. Da darf man schon mal stutzig werden.“

Der Pfarrer sah nicht glücklich aus.

„Sehen Sie sich diese Verkleidung an. Eine eng geschnittene Hose ohne eine Büchsenklappe. Das Hemd aus sehr feinem Stoff in einer sonderbaren Farbe, wie ich sie noch nicht sah.“

Er spielte auf meine Jeans und das weinrote Hemd an, das ich trug. Was war sein Problem?

„Solche Kleider tragen nur reiche Menschen, sehr reiche Menschen oder Betrüger. Schauen Sie bitte weiter.“

Er trat dicht an mich heran und zog an meinem Gürtel.

„Ein Gürtel mit einer Metallschnalle. Ich habe so etwas Ähnliches nur bei Ihrem verstorbenen Vater gesehen, Frau von Döring.“

Die so angesprochene nickte wissend.

„Eine Kopfbedeckung trug er nicht“, sagte die Wiedow.

„Was soll das beweisen“, erkundigte sich Frau von Döring. „Ich weiß nicht“, fuhr sie fort, „was dieser Mann ist oder was er beabsichtigt. Tatsache ist, dass wir das gestohlene Geld bei ihm gefunden haben.“

„Und das er aussieht wie ein Geck. Ich glaube der Pfarrer hat recht. Er muss so etwas wie ein Hochstapler sein. Bestimmt kommt er von einem Zirkus.“

„Er wird hier in Gewahrsam bleiben. Gleich morgen früh sende ich Wilhelm zur Gendarmerie nach Wittenburg. Sie werden wissen, was mit einem solchen Kerl zu tun ist.“

Die blonde Frau wandte sich an Frau Wiedow.

„Haben Sie Bedenken, wenn er die Nacht hier bleibt, Frau Wiedow? Natürlich gefesselt. Soll ich Wilhelm zu Ihrer Unterstützung senden? Er kann in der Küche schlafen.“

Die Wiedow schüttelte den Kopf.

„Wir schließen den Raum ab. Ich denke, er wird sich nicht befreien können.“

„Wunderbar. Ich danke Ihnen, Frau Wiedow“, die Blonde ergriff die Hand der Älteren und schüttelte sie kräftig. „Herr Pfarrer! Marie!“, dann verließ sie den Raum.

 

Ich war vollkommen konsterniert, dass jedes Wort mit zu viel war.

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