Maria Wismar: Badow

Kapitel 4: Gefangen und Gefangen

 

„Er kann nicht hier bleiben!“

Der Pfarrer stand neben dem Fenster und schielte nach draußen.

„Die Döring ist weg.“

Er sah die Frau an, die Kauffrau Wiedow genannt worden war. Die dunklen Augen in ihrem bleichen Gesicht schimmerten im Licht des Kaminfeuers wie dunkle Murmeln aus. Sie nickte ihm zu. Mir kam es vor, als habe sich ihre Gestalt gestreckt, seit die Blonde mit dem Zopf aus dem Raum verschwunden war.

„Wir bringen ihn in den Hexenkeller. Dort wird ihn Niemand finden.“

„Was sagen wir Frau von Döring? Sie wird morgen nach der Gendarmerie schicken und wie ich sie kenne, dabei sein wollen, wenn sie ihn“, sie zeigte auf mich, „abholen.“

„Wir sagen ihr, dass er in der Nacht geflohen ist. Irgendwie konnte er sich aus den Fesseln befreien und die Tür öffnen. Es sind keine Spuren mehr zu finden. So ist es geschehen. Hast du verstanden, Marie?“

Die braunhaarige junge Frau bedachte mich mit einem Blick, in dem ich ein Gefühl zu sehen glaubte, und nickte dann.

„Klar wie eine Hühnerbrühe von Mutter.“

„Sehr amüsant, Marie!“

„Still jetzt! Wir dürfen kein Aufsehen erregen, wenn wir ihn in die Kirche bringen. Ich werde seinen Oberkörper nehmen und ihr seine Beine. Auf jetzt!“

Ich begriff, dass etwas Furchtbares mit mir passieren sollte. Warum wollten sie mich nicht der Polizei übergeben? Was hatte ich ihnen getan? Glaubten sie, ich würde ihr Sektennest verraten?

„Der Kerl wehrt sich!“, rief Frau Wiedow. „Sollen wir ihn nicht einfach auf den Kopf schlagen?“

Bitte? Der Pfarrer betastete die Fesseln an den Beinen.

„Das wird nicht notwendig sein. Wir sind in wenigen Sekunden dort.“

Er fasste mich unter den Armen und jede der Frauen griff eines meiner Beine. Der Pfarrer zählte leise bis drei und zugleich hoben sie mich hoch. Die Frauen schritten voraus.

Die Nacht war vollständig hereingebrochen. Der Mond versteckte sich hinter schwarzen Wolken. Es war, als wolle er nicht Zeuge sein, was mit mir passierte. Wer weiß, was der Mond über diesem Dorf schon gesehen hatte?

Die Nacht war dunkel wie die Hölle in die Kirche hereingebrochen. Kein Mondlicht schimmerte durch die Fenster an den Seiten. Kein Kerzenlicht beleuchtete die klammen Wände. Vor ein paar Stunden hatte ich genau hier gestanden und mit Marie-Luise den Ritter von Badow betrachtet. Jetzt aber, jetzt war die Konche, in der die Skulptur gestanden hatte, leer.

„Stellt ihn dort ab“, rief der Pfarrer als wäre ich ein Kleiderschrank.

Die beiden Frauen taten wie geheißen. Fehlte noch, dass sie mich anstelle des Ritters in die Konche stellen würden. Aber sie lehnten mich nur an die Wand. Wie haben sie die Skulptur nur so schnell fortbewegen können?

„Hier findet ihr Kerzen und Feuer.“

Die drei atmeten schwer als wären sie einen Halbmarathon in Bestzeit gelaufen. Nach einigen Sekunden blitzte ein Funken auf und zwei Sekunden später flackerte eine kleine Flamme blauweiß auf einer armdicken Kerze.

„Es geht hier entlang.“

Sie machten sich nicht mehr die Mühe, mich an den Füßen hochzuheben. Der Pfarrer schleifte mich einfach über die behauenen Steine des Fußbodens als wäre ich ein zu groß geratener Sack Kartoffeln.

„Er kommt in den Keller. Dort bleibt er“, sagte der Pfarrer und sah die ältere Frau eigentümlich eindringlich an. Sie nickte ihm zu.

Die dunkle Holztür verbarg eine schiefe Steintreppe, die meiner Ansicht nach direkt in die Hölle führte. Es ging ziemlich weit nach unten, ich schätzte fast zehn Meter. Am Ende der Treppe öffnete sich ein großer Raum.

Gegenüber dem Eingang befand sich eine Nische. An der Nordwand des Kellers streckten eine Reihe Haken ihre eisernen Finger aus der Wand, etwa einen halben Meter über dem Boden. Der Zweck schien selbst mir eindeutig: Hier wurden Gefangene angekettet. Solche wie ich. An der gleichen Wand befand sich eine bogenförmige türlose Öffnung.

Durch diese wurde ich geschleift. Sie führte über vier schmale Steinstufen in einen kleineren Keller. Hier zwang mich der Pfarrer mich zu setzen und band mich an einen der Ringe. Alles, was mich tröstete, war ein kleiner Luftschacht, der durch das dicke Mauerwerk steil nach oben führte.

 

~~~~~

 

Die Holzbank drückte sich unsanft in meinen Rücken. An Schlaf war nicht zu denken. Außerdem liefen meine Gedanken kreuz und quer. In was war ich hier nur hineingeraten? Welche Rolle spielte Chris dabei? War das Gerede von der Schwangerschaft und der Abtreibung nur eine Lüge gewesen, um mich in dieses Theaterstück zu locken?

Das ergab alles keinen Sinn. Was sollte es bedeuten? Und warum hatte man mich gefesselt?

Mit der Zeit schnitten mir die Fesseln in die Haut. Niemand hatte mich auf eine solche Situation vorbereitet.

Ich war müde, konnte aber nicht schlafen. Ich spürte wie die Kraft meinen Körper verließ. Das Adrenalin, das mich die ganze Zeit über wach gehalten hatte, fiel auf einen Tiefpunkt und ich fühlte mich schlapp, ohne Tatkraft. Eine große, allumfassende Gleichgültigkeit legte sich wie ein Schleier über mich. Vielleicht sollte ich einfach abwarten, was passierte. Irgendwann musste sich das Ganze auflösen.

Durch das schmale Fenster an der gegenüberliegenden Wand spazierte die Morgendämmerung in den Raum. Die Ruhe und die Leere wirkten im Vergleich zu meiner Lage surreal. Die Stille betäubte mich wie eine Droge. Irgendwo ächzte Holz. Jetzt wieder. Die Stille war plötzlich verschwunden wie auch die Ruhe und Leere.

Vom Eingang her hörte ich vorsichtige Schritte als wenn eine Katze auf der Pirsch war. Es konnte sich aber genauso gut um eine Wahnvorstellung handeln. Oder um eine Ratte, die mich zum Frühstück anknabbern wollte. Das hatte mir noch gefehlt. Ich sah meine Hand schon ohne den kleinen Finger, stattdessen mit einem Stumpf, aus dem dickes Blut lief.

Die Berührung an meinem Bein. Die Ratte schien es mehr auf meinen Zeh als auf den Finger abgesehen zu haben. Ich wand mich wie ein Käfer auf dem Rücken und versuchte, die Berührung abzuschütteln.

Die aber packte mich fester und zischte mir ein „Psst!“ zu. Bei allem, was mir am heutigen Tag passiert war, eine Ratte konnte unmöglich „Psst!“ zischen. Das beruhigte mich.

An dem Zischen, so kurz es auch gewesen sein mochte, erkannte ich, dass es von einer weiblichen Stimme kommen musste. Eine Frau, da war ich mir sicher, konnte mir doch nichts Böses antun, oder?

Ich hielt mich an die Vorgabe und blieb still. Ein tiefes Ausatmen war die Antwort auf meine Folgsamkeit. Finger tasteten auf meinem Arm, bis sie meine Hände erreichten. Hier stießen sie auf die Stricke, mit denen meine Hände gefesselt waren.

Ich ächzte, als Hände und Arme zurückgezogen wurden, wohl um besser an die Knoten zu gelangen, die die Fesseln zusammenhielten. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Die Dunkelheit verbesserte meine Situation keineswegs. Ich fand meine Befreierin sehr ungeschickt; hatte latent das Gefühl, sie würde an den falschen Stellen ziehen und die Fesseln enger ziehen als sie zu lösen, was doch die ursprüngliche Absicht gewesen sein musste.

„Psst!“, machte die eindeutig weibliche Stimme, obgleich ich wirklich kein Geräusch gemacht hatte.

Endlich waren die Knoten gelöst. Mit einem Handgriff, den ich nie bei mir vermutet hätte, waren die Fesseln abgestreift und ich rieb mir die blutleeren Muskeln.

Im Dunkeln konnte ich das Gesicht der Frau nicht erkennen. Sie war eine Handbreit kleiner als ich und hatte ein flinkes Wesen an sich wie eine Eidechse. Bevor ich etwas sagen konnte, küsste sie mich auf den Mund und war verschwunden.

„Hallo?“, flüsterte ich.

Holz schlug matt auf Holz. Mir wurde bewusst, dass ich wieder alleine war. Es wurde immer verrückter. Ich ging in die Hocke. Es war wohl besser, wenn ich meine Überlegungen in Freiheit anstellen würde. Und dazu musste ich diesen Keller und dieses Haus verlassen.

Ich lauschte in die Dunkelheit. Alles war still. Als hätte sich meine Befreiung nicht zugetragen, allenfalls in meiner Vorstellungswelt. Die Hände aber waren frei und das war der Beweis, dass ich mir nicht alles eingebildet hatte. Ich löste meine Fussfesseln, wobei ich mich ungeschickt anstellte. Solche Handlungen war ich nicht gewohnt. Als ich es endlich geschafft hatte, ächzte ich laut auf und schalt mich zugleich einen Jammerlappen und einen Narren. Lauschte in die Dunkelheit. Die Stille erleichterte mich und gab mir Mut. Auf Knien und Händen robbte ich in Richtung Tür.

Die war nur angelehnt. Ich konnte sie mühelos öffnen. Hier verlor sich der Modergeruch. Auf allen Vieren kroch ich die Steintreppe hinauf. Nur nicht ausrutschen. Endlich erreichte ich die Tür zur Kirche. Aus der Hölle auferstanden.

Ich öffnete die Holztür einen Spalt breit und lauschte. Alles war still, wie es sich für eine Kirche um diese Zeit gehörte. Die Wand entlang schlich ich zur grünen Holztür.

Vorsichtig zog ich sie auf. Ein Schwall frischer Luft wie eine falsch eingestellte Dusche überkam mich. Es war ein gutes Gefühl, die frische Luft mit dem abgestandenen Innern des Hauses zu tauschen.

Die Dämmerung hatte erst begonnen und noch schien das ganze Dorf zu schlafen. Bei dem Gedanken allein zu sein, kam mir ausgerechnet Chris in den Sinn. Wo sie sich jetzt befand? Wie ging es ihr? Wie fühlte sie sich ohne mich?

Bei diesen Gedanken spürte ich ein Sehnen in mir wie Schmerzen, die lange anhielten. Sie fehlte mir. In diesem Moment fasste ich den festen Entschluss, nicht aufzuhören, Chris zu suchen und zu finden, ganz gleich, welche Opfer ich bringen musste und welche Schwierigkeiten sich mir in den Weg stellen würden. Unsere Beziehung erschien mir auf einmal so deutlich, so klar vor Augen, als wäre sie bisher immer hinter einen Nebel gelegen.

Ich blieb am Boden. Das schien mir sicherer als alle anderen Optionen. Zu meiner Rechten sah ich die Silhouette der Kirche. Es war eindeutig das Gotteshaus von Badow. Ich erkannte das neugotische Gebäude an seinem Ziegelmauerwerk und dem englischen Gotik-Stil.

Doch irgendwie schien die Jahreszeit nicht zu stimmen. Wir waren doch im Herbst gekommen und jetzt schien es Frühling zu sein. Auch die Straße war ganz anders ausgeführt, als ich es von Heute Nachmittag vor Augen hatte. Jetzt war sie nicht gepflastert und teilgeteert wie noch vor einigen Stunden, sondern bestand aus einer Mischung von Sand, Lehm und Pfützen. Mehr aus Letzterem.

Zur Linken hinunter ging es zum Herrenhaus. Weiß schimmerte es durch das Dämmerlicht. Alles war so ähnlich wie vor ein paar Stunden, und doch wirkte es vollkommen verändert. Welche Logik steckte dahinter?

Ich musste Chris finden. Sie war die Antwort auf all meine Fragen. In dieser Erkenntnis wurde mir meine jämmerliche Rolle bewusst. War ich ein Getriebener, der keine eigene Meinung hatte? Ich verdrängte den Gedanken. Konzentriere dich, Robert!

Ich entschied mich, die Straße zu meiden. Die Dunkelheit der Nacht begann der Frische des Morgens zu weichen. Die Sonne lugte bereits über den Horizont.

Ich drückte mich die Hauswand entlang und gewann die Rückseite des Hauses. Hier führte ein Weg zu Kartoffeln und anderem Gemüse. Durch Erbsen- und Bohnenreihen schlängelte ich mich bis zu einem Zaun aus daumenbreiten Ästen und Zweigen. Noch einmal schloss ich die Augen und lauschte. Nichts zu hören. Eine Falle?

Hinter dem Zaun öffnete sich eine ebene Weide, die von einer Linie aus Buschwerk eingegrenzt wurde. Die Büsche befanden sich auf einer leichten Anhöhe, als wäre die Weide eine Wanne. Hinter dem Hügelchen floss wahrscheinlich die Schilde, der Bach, der dieser Region einen Namen gab.

Ich erinnerte mich, ihn letzte Nacht überquert zu haben. Dieser Gedanke führte mich zurück zu Chris. Diesen Weg musste ich wieder nehmen.

Ich vergewisserte mich, dass Niemand zu sehen war. Dann lief ich los. Zumindest war das meine Absicht. Meine Beine aber fühlten sich an, als wären sie aus Eisen und seit Jahren nicht geölt worden. Etwa wie die Beine des Ritters von Badow.

 

~~~~~

 

Der Bach war an dieser Stelle etwa zwei Meter breit und das Wasser klar genug, um die Tiefe mit ebenfalls zwei Meter zu beziffern. Ich verspürte keine Lust, nass zu werden. Vielleicht sollte ich ein Stück weiter dem Bach folgen, um eine Gelegenheit zu finden, ihn mit trockenen Füßen zu queren.

Die Sonne war jetzt aufgegangen, hatte es aber nicht geschafft, den Nebel zu verdrängen. Er hing über mir wie eine Wolke, bereit mich beim Anzeichen der kleinsten Schwäche zu umhüllen.

Der Untergrund wurde feuchter, meine Schritte wurden von einem hässlichen Schmatzen begleitet. Doch da war noch ein anderer Ton und der kam nicht von mir. Ich blieb stehen und lauschte in den Morgen. Das Geräusch drang vom gegenüberliegenden Ufer zu mir und ich fühlte mich in die letzte Nacht versetzt.

Ich warf mich auf den Boden. Meine Sorge, entdeckt zu werden, war so gewaltig, dass mein Mund beinahe in die feuchte Erde biss. Ich wagte nicht zu atmen. Hoffentlich verhielt sich mein Magen ähnlich still, denn ich spürte neben der Sorge auch einen extensiven Hunger.

Durch das Gebüsch am anderen Ufer der Schilde blitzte es gelb auf. Irgendetwas oder Irgendjemand bewegte sich dort. Ich hatte richtig gehört. Waren sie mir auf der Spur? Hatten sie meine Flucht entdeckt? So schnell?

Ich fühlte Panik in mir aufsteigen. Unter keinen Umständen wollte ich wieder gefesselt in der Gruft unter der Kirche liegen. Ich musste zu Chris. Ich musste zu meinem ungeborenen Kind. Ich musste die Welt retten; meine zumindest.

Gegenüber von mir teilte sich der Ebereschen-Strauch und eine Frau zwängte sich durch die Zweige. Frech hüpfte der Zopf, zu dem sie ihr blondes Haar gebunden hatte, von links nach rechts. In der Hand hielt sie einen Riemen oder eine Leine.

An diesem Riemen war etwas befestigt, denn sie zog kräftig daran und durch das Gebüsch drang ein dunkelbraunes Gesicht mit einer endlos langen Nase und zwei spitzen Ohren. Es war ein Pferd. Ich kannte das Pferd. Ich wusste sogar seinen Namen: Brutus.

Obgleich ich nie zuvor mit diesen Tieren zu tun gehabt hatte, erkannte ich den Hengst sofort wieder. Der blonde Pferdeschwanz der Frau zeichnete sich konturenreich vor dem braunen Pferdekörper ab. Julia von Döring hätte kein andersfarbiges Pferd wählen dürfen.

Ich kam mir irgendwie verdorben vor, dass ich die Frau heimlich beobachtete. Ich kam mir vor wie ein Spanner, der im Dämmerlicht durch Schlafzimmer spähte. Aber die Augen vermochte ich von ihr nicht zu lösen. Was wollte sie hier? Suchte sie mich?

Sie stand mit dem Rücken zu mir und griff mit beiden Händen zum Haar. Sie öffnete den Pferdeschwanz. Ihre Silhouette glich einer Sanduhr. Irgendetwas in dieser Bewegung bewegte mich.

Mir schien sie gleich einer ägyptischen Pharaonin, eine Pharaonin aus Mecklenburg. Schlank wie ein Reh, wie ein junger biegsamer Eschenbaum; gespannte Haut über anmutigen Muskeln.

In dieser Silhouette sah sie wie ein Mädchen aus. War es die Schlankheit, die sichtbare Spannung ihrer Haut, die feengleiche Gestalt, die mich anrührte? Dieser Moment verflog, als sie die Hände senkte. Sie blickte sich um, als wolle sie den Erfolg ihrer Handlung auf den Gesichtern etwaiger Beobachter betrachten.

Ein solcher war ich und als es mir bewusst wurde, drückte ich mich noch enger an den Boden. Zu der Sorge, gefangen zu werden, mischte sich nun eigenartigerweise der Scham, die Frau heimlich bei dieser intimen Handlung beobachtet zu haben.

Sie legte ihre Hand auf die Nüstern des Pferdes und flüsterte ihm etwas zu. Dann seufzte sie laut auf und zog einen Brief aus ihrer Bluse. Sie nahm ihn in beide Hände und drehte ihn mehrmals um die eigene Achse, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Dann schälte sie einen Bogen Papier aus dem Umschlag. Sie hielt ihn unschlüssig in den Händen.

Vielleicht wollte sie ihn zerreißen, aber sie entschied sich anders. Sie faltete das Papier auseinander und begann zu lesen. Die Hautfarbe in ihrem Gesicht, die bisher von der Frische der Luft und der körperlichen Anstrengung in einem frühlingsfrischen Rosa schimmerte, wurde zuerst Weiß wie Neuschnee und dann Rot wie überreife Paprika.

Offensichtlich musste sie sich zwingen, das Schriftstück bis zum Ende zu lesen. Ich konnte in ihrem Gesicht die anschwellende Wut lesen. Die Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen und die Farbe ihres Gesichts schwankte jetzt zwischen Glutrot und Vulkanheiß. Endlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie schrie, als hätte man sie gefesselt und unter ihr ein Feuer angezündet.

Der freche Pferdeschwanz flog von rechts nach links als wolle er auf diese Weise die Aufregung verscheuchen. Sie ballte eine Faust und biss darauf. Aber sie hatte damit keinen Erfolg. Ihre Aufregung musste raus und sie platzte aus ihr wie … Es war ein Schrei, in dem Wut wie Angst um die Vorherrschaft stritten.

Er fuhr mir durch die Knochen in das letzte Atom. Und noch jemand zeigte sich betroffen. Brutus, ihr Pferd. Es blieb nicht so ruhig wie ich. Musste sich auch nicht verstecken.

Es stieg auf die Hinterbeine, die vorderen beide in die Luft, nahe am Kopf der Frau. Sie erkannte die Gefahr.

Sie riss die Arme hoch. In der kühlen Luft dampfte das Pferd als wolle die Angst und Erregung durch diesen Weg aus ihm heraus. Jetzt war es an dem Tier zu schreien, jedenfalls klang sein Wiehern so für mich.

Es stieg ein zweites Mal auf die Hinterbeine, verdrehte die Augen, ich glaubte das Weiß in den Augen leuchten zu sehen, und drängte voran. Instinktiv wich Julia zurück. Zwei, drei Schritte und sie befand sich gefährlich nahe dem Ufer der Schilde.

Als sie dies bemerkte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Das Rudern mit den Armen machte das Pferd noch verrückter. Sein Vorderbein schlug gefährlich nahe an Julias Kopf. Ein Treffer, und das Schlimmste war zu fürchten.

Ich musste handeln. Sprang aus meinem Versteck und brüllte das Pferd an. Der Erfolg war, dass es noch wilder wurde als zuvor. Ohne zu überlegen nach ich drei Schritte Anlauf und setzte über die Schilde. Alles lief wie in einem Film.

Drüben angelangt, schubste ich Julia zur Seite, dass sie auf den Boden fiel und ergriff die Zügel des Pferdes. Ich hatte nie zuvor mit einem Pferd so nahe zu tun gehabt und war von der Größe des Tieres überrascht. Instinktiv redete ich beruhigend auf das Pferd ein, obgleich meine Brust ähnlich wild schlug so kräftig wie die des Braunen.

An dem Zügel zog ich seinen Kopf herunter und fuhr mit meiner Hand langsam auf der Nase hinab. Mit jedem meiner Herzschläge konnte ich fühlen, wie er sich beruhigte. Auch meine Aufregung legte sich langsam. Ich fühlte, dass wir jetzt sicher waren und hielt den Zügel trotzdem krampfhaft fest in der Hand.

Ich wandte mich Julia zu. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund an.

„Sie?“

Julia schien erboster darüber zu sein, dass ich entkommen war als erleichtert, dass ich sie gerettet hatte.

„Haben Sie sich verletzt?“

Ich beschloss, nicht kindisch wegzurennen. Das Dorf war nah und auf Ihrem Pferd Hilfe holen und mich einzufangen war nicht besonders schwer. Mich selbst in den Sattel zu schwingen, fiel mir nicht ein. Ich war noch nie geritten. Als Kind war ich wie ein Indianer über abgrundlose Schluchten gesprungen, um meinen Verfolgern zu entkommen. Aber das waren Träume.

Aber Julia dachte offensichtlich nicht daran, wegzureiten. Sie ignorierte meine hingestreckte Hand und erhob sich ohne Hilfe. Dann ergriff sie die Zügel und zog den Pferdekopf sanft in ihre Richtung. Leise, mit ruhiger, weicher Stimme sprach sie auf das Tier ein, legte erst die Hand, dann die Wange auf die Nüstern des Pferdes.

Eine große Ruhe legte sich über das Pferd, als hätte die Berührung der Frau dafür ausgereicht. In den braunen großen Augen des Tieres meinte ich eine große Zuneigung zu erkennen und plötzlich war ich sicher, das Pferd hätte seine Reiterin niemals verletzt.

Nun war es für einen Rückzug zu spät. Ich stand von Julia, die Schuhspitzen nach innen gedreht, und fühlte mich wie ein erwischter Verbrecher vor dem Urteil der Richterin.

Sie aber sah mich mit ihren blauen Augen an und alles um sie und mich verschwamm zu einem farbenfrohen drehenden Kreisel. Ich vermochte nicht zu atmen, geschweige denn zu denken. Wäre ich ein Schneemann, wäre ich von innen geschmolzen.

„Ich habe nicht erwartet, dich wieder zu treffen.“

Ein Teil meines Gehirns nahm die Arbeit wieder auf und auch die Atmung setzte ein. Dennoch zog ich es vor, zu schweigen.

„Ich halte dich für einen Dieb. Offensichtlich hast du noch andere Fähigkeiten.“

Sie blickte mich weiterhin unverwandt an als sei er so etwas wie ein Lügendetektor.

„Danke!“

Es war kaum mehr als ein Lufthauch aber das Wort durchströmte mich wie ein Sonnensturm. Was passierte hier gerade? Er war auch sehr warm.

„Du kannst gehen. Ich werde dich nicht aufhalten.“

Offensichtlich war diese Frau nicht die Zicke, für die ich sie gehalten habe. Da verbarg sich etwas Warmes, Weiches hinter der spröden Schale der Tochter eines Gutsbesitzers. Etwas Überraschendes, etwas Unvermutetes, etwas Angenehmes.

„Die Sache ist die“, erklärte ich, „mir fehlt die Richtung.“

„Immerhin warst du auf einem Weg“, sie schien überrascht.

„Ich suche meine Freundin. Gestern habe ich sie verloren. Wir waren mit dem Auto …“

„Moment bitte“, Julia sah mich an, als würde sie mich für verrückt halten. „Ich verstehe nur jedes zweite Wort, was du sagst. Du bist ein sonderbarer Mann.“

Darauf wusste ich nichts zu antworten. Wahrscheinlich hatte sie recht.

„Nun“, offensichtlich war ihr das Schweigen zu lange, „du musst Hunger haben. Im Gutshaus kannst du dich stärken und darüber nachdenken, welchen Weg du nehmen willst.“

Angesichts des nagenden Gefühls in meinem Magen, fand ich Gefallen an diesem Vorschlag. Doch mir kam ein Gedanke.

„Was, wenn dieser verrückte Pfarrer mich wieder einsperren will. Noch einmal gehe ich nicht in das Verlies.“

„Verlies?“, murmelte Julia.

Dann wischte sie meine Bedenken mit einer Handbewegung zur Seite.

„Im Gutshaus hat der Pfarrer nichts zu sagen.“

Ich wusste nicht recht. Die Wahrheit war, ich wusste nichts. Nicht, wohin ich geraten war, nicht, wohin ich gehen sollte, nicht, was ich als nächstes unternehmen konnte. Vielleicht war es wirklich eine gute Idee, zunächst mit Julia zu gehen. Und etwas zu Essen konnte wirklich nicht schaden, wenn ich an den knurrenden Magen dachte.

Ich nickte Julia zu. Es gab, musste ich zugeben, auch ein winziges Gefühl in mir, dass sich freute, diese Frau weiter zu begleiten. Es war wie ein warmer Strahl, der durch meinen Körper ging. Es war gar keine Frage, ob ich mitgehen wollte.

Ich nickte ihr zu und hoffte inständig, nichts von dem, was in mir passierte, wäre in einer Äußerlichkeit von mir zu entdecken.

Wir redeten nicht, schritten schweigend nebeneinander. Es war ein ganz anderes Schweigen als jenes vor einem Tag, das mit Chris.

Chris.

Beinahe hätte ich Chris vergessen. Und mein Kind. Das durfte nicht passieren!

Ich musste irgendetwas von mir gegeben haben, denn Julia fragte mich, was ich gesagt hätte. Ihre weiche Stimme entwarf ein völlig anderes Bild, als das, was ich in der letzten Nacht von ihr gezeichnet hatte.

Als wir die Straße zum Gutshaus erreicht hatte, spazierten wie nur etwa hundert Meter, bis wir ein Tor durchschritten. Die gemauerten quadratischen Pfeiler trugen nicht einfach einen Bogen, der sich über den gepflasterten Weg spannte. Als wir dieses Tor durchschritten, bemerkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte.

 

Julia spannte den Körper, das Pferd spürte es sofort. War es bisher ganz entspannt hinter uns hergetrottet, riss es nun am Zügel. Die Ursache befand sich vor dem Gutshaus und war so bunt wie ein Weihnachtsmarkt.

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