Maria Wismar: Badow

Kapitel 5: Julia von Döring

Julia von Döring hob den Kopf. Als sie neben mir ging, hatte sie den Kopf gesenkt wie ich. Schweigend hatten wir den Weg vor uns betrachtet, als hätten wir dort etwas verloren und hofften auf einen zufälligen Fund. Es war gut so.

Jetzt aber, in Anbetracht der Störung, hob sie die Nase und Kinn nach oben, die Schultern strafften sich, ihr ganzer Körper strahlte Entschlossenheit und Kraft aus, als wolle sie gleich eine ganze Armee in den Krieg führen.

Dabei war sie vollkommen von ihrem Sieg überzeugt, ohne dass sie die Anzahl ihrer Gegner interessieren würde.

Dabei waren sie zahlreich.

Vor dem Eingang zum Gutshaus schlängelte sich eine große Treppe empor. Flankiert wurde sie von zwei Marmorgeländer. Vor dieser Treppe hatten sich etwa 20 Menschen versammelt. Sie schienen erregt, denn keiner von ihnen stand still. Gegenüber der Treppe hatten sie einen Halbkreis gebildet. In seinem Mittelpunkt stand ein schwarz gekleideter Mann.

Er war der Einzige, wie es mir schien, der absolut ohne Bewegung war. Dabei stand er so aufrecht wie eine Stele.

Julia zögerte keinen Augenblick, stand keinen Moment starr, ließ keine Unsicherheit zu. Im Gegenteil, sie beschleunigte ihr Tempo, obgleich sie äußerlich gelassen wirkte. Sie zügelte das Pferd kurz und maßregelte es.

Sie blickte auch nicht zu mir. Ich eilte, um Schritt mit ihr zu halten. Ich fühlte mich wie ihre kleine Armee, die zur Unterstützung ihrer Generalin bereit war zu sterben. Denn das Julia und damit auch ich auf einen Konflikt zusteuerten, lag wie ein Knistern in der Luft.

Als wir uns der wartenden Gruppe bis auf fünfzig Meter genähert hatten, erkannte ich die Figur auf der Treppe. Es war der Pfarrer.

Sie sahen aus, als warteten sie auf etwas. Nicht auf den Bus, von dem man genau wusste, wann der zu kommen hatte. Sie warteten auf etwas anderes und jede Sekunde, die unerfüllt verstrich, befeuerte ihre Ungeduld. Man sah es an den Füßen, die den Boden unter ihnen aufscharrten, an den Oberkörpern, die nach vorne wippten, statt dem Wind entgegenzustehen. Sie standen nebeneinander, waren sich in der Sache einig.

Ich erkannte die Witwe, die ich angeblich bestohlen haben sollte. Neben ihr stand das Mädchen, dass wie Chris aussah.

Konnte es sich noch immer um ein Theaterstück handeln? Viel Aufwand, um sich über mich lustig zu machen. Es war nicht Chris` Stil.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Julia mich beobachtete.

„Du kennst sie wirklich?“

Was sollte ich ihr sagen? Dass sie meiner Freundin wie aus dem Gesicht geschnitten aussah und sich nur vollständig anders verhielt? Vor allem, mich nicht zu kennen schien?

„Ich dachte es. Aber ich habe mich wohl geirrt.“

Julia zog die rechte Augenbraue nach oben. Wir waren an der Gruppe angekommen. Julia drängte sich ohne ein Wort zu verlieren durch die Menschen und öffnete mir eine Gasse. Sie hielt dem Pfarrer die Zügel vor die Nase.

„Hier, halten Sie mal, Ehrwürden!“

Julias selbstsicheres Auftreten überraschte den Pfarrer sichtlich. Aus Gewohnheit oder eingeschüchtert, ergriff er die Zügel. Seine aufgerissenen Augen zeigten die Überraschung. Um sein Erstaunen zu komplettieren, legte Julia ihre Hand auf seine Schulter, wandte sich an die Wartenden und verkündete mit fester Stimme: „Leute, geht jetzt wieder an euer Tagwerk! Nächste Woche erwarten wir vornehme Gäste auf Gut Badow. Ihr wollt doch, dass man unser Dorf wertschätzt.“

Die meisten der Köpfe nickten dazu. Die ersten begannen sich umzudrehen, als der Pfarrer sie zurückrief.

„Wartet!“

Seine Stimme war belegt wie eine Stulle mit abgekratzter Butter. Er hielt den Zügel in der Hand und wusste nicht recht, was er damit anfangen sollte.

Die meisten der Leute verhielten sich wie eine Herde Schafe, die sich unsicher waren, zu welcher Seite sie sich wenden sollten. Sie hielten Ausschau nach einem Leithammel. Wie eine Herde Schafe wandten sie ihre Köpfe dem lautesten Rufer zu, wenngleich ihr Herz ihnen ein Weglaufen dringend riet.

Die Worte sprangen nur so über ihre dünnen Lippen als hätten sie eine lange Zeit darauf gewartet.

„Hier“, damit zeigte er mit ausgestreckter Hand und ausgestrecktem Zeigefinger auf mich, „ist die Hexe!“

Der Vorwurf traf mich auf eine Art. Ich war doch kein Hexer, geschweige denn eine Hexe! Ich konnte weder Stroh zu Gold spinnen, noch Kinder mästen, um sie anschließend zu braten und zu verspeisen. Ich war perplex und bekam kein Wort heraus. Julia war da anders.

„Hören Sie auf, Blödsinn zu erzählen! Der Mann hier ist vielleicht ein Dieb, aber sicher nicht mehr als das.“

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. An seinem erhobenen Kopf erkannte ich, dass er zu selbstsicher war, um sich einschüchtern zu lassen. Ich war mir sicher, er hatte eine Trumpfkarte in seiner schwarzen Jacke versteckt. Er winkte einen Jungen mit blauschwarzen Haaren zu sich und drückte diesem die Zügel in die Hand.

„Dieser Mann ist nicht das, was er zu sein vorgibt.“ Wieder landete sein ausgestreckter Zeigefinger beinahe in meinem Gesicht. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich jemand auf diese Weise behandelte.

„Nehmen Sie Ihren Finger aus meinem Gesicht oder ich steche zuerst zu!“

Ich zeigte ihm meine rechte Hand mit dem ausgetreckten Zeigefinger als Beweis, dass ich für alles bereit war.

Ein Raunen ging durch die Menge. Ich selbst war aber über mich erstaunt. Bisher hatte ich diese aggressive körperliche Art an mir nicht wahrgenommen, noch war ich als Schläger bekannt. Ganz im Gegenteil: Ich war eher ein Schlichter und harmoniebedürftig.

Jedenfalls hatte ich mit dieser Drohung gegen den Pfarrer einen Fehler gemacht. Die Stimmung der Meute richtete sich eindeutig gegen mich.

Mit der linken Hand stocherte der Pfarrer in der Jackentasche und zog meinen Personalausweis hervor. Zwischen zwei Finger hielt er ihn der Menge entgegen und rief: „Dieses Ding trug er bei sich. Hat jemand von euch so etwas schon einmal gesehen?“

„Ist einer von euch schon jemals über Badow hinausgekommen?“, murmelte Julia.

Der Pfarrer ließ sich nicht beirren.

„Auf diesem Teufelswerk“, er deutete mit dem Kopf in Richtung Ausweis, „ist das Haupt dieses Mannes“, jetzt nickte er zu mir, „aufgezeichnet. Es steht, dass er im Jahr 1971 geboren wurde.“

Er reckte den Arm mit dem Personalausweis noch ein Stück höher, als wäre auch diese Bewegung ein Beweis für meine Verbundenheit mit Satan.

Ich war ratlos. Wie sollte ich diesen Menschen erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Ich verstand es ja selbst nicht.

„Vielleicht handelt es sich um einen Fehler und es heißt 1831“, sagte Chris.

Nein. Es war nur die Stimme, die wie Chris klang und von der Frau stammte, die wie Chris aussah. Ich nickte ihr dankbar zu.

„Das ist“, hier legte der Pfarrer eine effektvolle Pause ein, „Teufelswerk!“

Der Rest der Meute murmelte zustimmend. Ich empfand es auch als Teufelswerk, besonders weil meine Pseudo-Chris es offensichtlich normaler fand, wenn ich 1831 statt 1971 geboren wäre. Wenn sie mich für 30 oder 35 Jahre alt hielten, wäre es jetzt in ihrer Zeitrechung zwischen 1861 und 1866. Da fehlten mir irgendwie 140 Jahre.

„Das finde ich aber auch“, rutschte es mir heraus.

„Seht selbst, er gibt es also zu“, ergriff der Pfarrer die Gelegenheit und reckte den Arm samt meinem Personalausweis triumphierend in die Luft.

„Hören Sie endlich auf mit dem Quatsch! Sagen Sie mir lieber welches Datum wir heute haben.“

 

Ich verlor die Geduld.

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